Die Seele bricht am Straßenrand

Zahllose Stricher und Prostituierte im
tschechischen Grenzgebiet sind noch Kinder

Hinter der bayerischen Grenze verläuft der längste Straßenstrich Europas. Rund 300 Sextouristen treibt es täglich nach Tschechien. Dort warten auch ungezählte Kinder auf Kundschaft.

CHEP - Das blaue Schild am Grenzübergang bezeugt die Zugehörigkeit zur EU. Doch an den Fassaden der böhmischen Grenzstädte nagt noch die Erinnerung an den Sozialismus. Wer Geld hatte, sein Haus zu streichen, hat mintgrün oder gelb gewählt. Wenige Farbflecken, die trotzig leuchten. Wie Löwenzahn am Straßenrand.

Dort stehen Frauen, die nach Autos Ausschau halten, in denen Freier sitzen. Die Mädchen sind jung. Kaum zwanzig. Mit dezenten Gesten bedeuten sie den Vorbeifahrenden, anzuhalten. Deren Limousinen wirken in diesem vernachlässigten Landstrich ebenso deplatziert, wie die Tankstellen und Discounter der globalen Konzerne. Ein Großteil der Kennzeichen stammt aus Bayern und Sachsen. Viele kommen nicht nur zum Tanken und Einkaufen nach Tschechien. Der Sextourismus boomt. Für das Land ist der »Grenzverkehr« längst schon ein gewichtiger Wirtschaftfaktor.

Konsumartikel Kind

»Die Menschen hier prostituieren sich aus der Not heraus«, sagt Cathrin Schauer, Leiterin des Vereins KARO, einem grenzüberschreitenden Präventionsprojekt gegen Kinder- und Zwangsprostitution. Seit 1996 sind die Sozialpädagogin und ihre slowakische Mitarbeiterin Ludmilla Irmscher auf einem 280 Kilometer langen Abschnitt »Straßenstrich« zwischen Sokolow und Marienbad unterwegs. Sie verteilen Hygieneartikel, Kondome und sterile Spritzen an die oft drogenabhängigen Prostituierten, klären auf über die Gefahren von AIDS, Hepatitis und Syphilis.

Dabei begegnen sie immer wieder Minderjährigen. Auch die »Ware Kind« gehört zum Konsumtourismus, wie billiges Bier und Benzin. »Aber das ist keine Prostitution, sondern Missbrauch.«
»Seriöse Schätzungen gehen von 50000 ständigen Konsumenten von Kinderpornographie in Deutschland aus,« sagt Manfred Paulus, ehemaliger Leiter der Kriminalinspektion Ulm. Seine Schlussfolgerung: »Wir stellen die Täter, die sich hinter der Grenze an Minderjährigen vergehen.«

Seit 20 Jahren setzt sich der Kriminologe mit Pädophilennetzen auseinander. Von zwei Täterprofilen geht die Polizei heute aus: Pädokriminelle, die von jung auf sexuell auf Kinder fixiert sind. Und »'Erlebnistäter', die auf der Jagd nach Sex bereits alles konsumiert und keinerlei Hemmschwellen mehr haben.«

Öffnet sich der Schlagbaum am Grenzübergang, fallen moralische Barrieren. Dahinter warten käufliche Kinder auf Kundschaft. Sie stehen vor Supermärkten, Spielhallen, an Tankstellen und vor Bordellen.


»Feuer Madame?«

Honza (Name geändert) ist einer von ihnen. Ein schlaksiger Junge, viel zu schmal für seinen roten Anorak. Jeden Satz quittiert der 13-Jährige mit einem breiten Lächeln, freut sich über die Aufmerksamkeit. Er selbst spricht wenig. Ist gewöhnt, dass seine Sprache kaum einer versteht. »Feuer Madame?« - ein Fetzen deutsch, geeignet für das Leben auf der Straße.

Honza sitzt in der KARO-Beratungsstelle in Eger. Zwei Zimmer, spartanisch eingerichtet. Eine Teeküche. Ein Bad mit Dusche. Eine Enklave der Sicherheit: Er trinkt »Chai«, bekritzelt ein paar Blätter, bekommt neue Schuhe, als er geht.

Schauer kennt Honza schon seit acht Jahren. Er gehört zur Roma-Minderheit, ist im »Milieu« aufgewachsen. Seine Mutter geht »anschaffen«. Auch er ist schon in viele Autos eingestiegen. »Viele wissen nicht einmal, dass verboten ist, was die Männer von ihnen verlangen«, sagt die Sozialpädagogin.

Die Kinder vertrauen den Tätern, die sich mit Geld oder Spielzeug ihre Zuneigung erschleichen. »Die entsprechen nicht dem klassischen Bild des brutalen Kinderschänders.«
»Die Täter kommen aus allen Alters- und Bildungsschichten«, sagt auch Paulus. Seine Erfahrungen decken sich mit dem, was Schauer in ihrem Buch »Kinder auf dem Strich« niedergeschrieben hat.

Darin schildert sie 500 traurige Kinderrschicksale, beruhend auf Interviews mit Opfern und Beobachtungen der Szene. Das Erscheinen des Buches vor zwei Jahren löste vor allem auf tschechischer Seite Empörung aus. Von Einzelfällen war die Rede.

»Aber das Problem kann man nicht wegdiskutieren«, sagt Rainer Riedl vom bayerischen Innenministerium. »Allerdings gibt es keine Klarheit über die Dimensionen.« Dass sich Kindesmissbrauch im Verborgenen abspielt, ist nur ein Grund dafür. »Die Kinder selbst erstatten keine Anzeige und sind als Zeugen meist ungeeignet«, sagt Schauer. Opferschutz ist ein sensibles Thema. Deswegen gehört zur Arbeit von KARO auch das Gespräch mit »normalen« Freiern.

»Jedem Verdacht nachgehen«

»Einige konnten wir sensibilisieren für das Elend.« Die Männer geben Hinweise, wenn Kinder in Bordellen angeboten werden. Schauer schaltet dann die tschechische Polizei ein. Nach dem Exterritorialprinzip können Deutsche nach deutscher Rechtslage für Kindesmissbrauch im Ausland bestraft werden. »Auch unsere Polizei geht konsequent jedem Verdacht nach«, so Riedl. Die Behörden beider Länder kooperieren.»Jedoch führen die Ermittlungen nur selten zur Anklage.« Oft verläuft sich die Spur schon, nachdem ein Kind in ein Auto eingestiegen ist.

Aber es gibt Lichtblicke. Das tschechische Innenministerium unterstützt ein Kinderzentrum in Eger. Ein Ausschuss der Nachbarländer befasst sich jetzt mit der Ausbeutung von Kindern. »Eine positive Wendung«, so Schauer.

Andererseits haben EU und Freistaat Sachsen die Finanzierung von KARO zum Ende vorigen Jahres eingestellt. Seither ist der Verein ganz auf Spenden angewiesen. Das finanzpolitische Tauziehen zehrt an den Kräften. Aber Schauer weiß: »Man muss unten ansetzen.« Das Vertrauen der Betroffenen zu gewinnen, ist schon ein Erfolg.

Es ist ruhig auf dem nächtlichen Straßenstrich. Nicht, weil es eisig ist. Das Fernsehen überträgt ein Länderspiel. Ein Wagen mit Hofer Kennzeichen parkt am Straßenrand. Darin sitzt ein Mann, lässt die Anlage dröhnen, wartet, dass die Streetworkerinnen weiterfahren.

Sie verteilen Pullover und Kondome an zwei Jungs, die am Eingang eines abbruchreifen Hauses rumlungern. Wie Motten zum Licht kommen immer mehr Kinder dazu. Mädchen und Jungs, manche kaum zehn Jahre alt. Cathrin Schauer drückt einem von ihnen einen Teddy in die Hand. Glasige Augen sagen »danke«. Irgendeine Droge lähmt seine Zunge.

Isabel Hempel

(Nürnberger Nachrichten, 01.03.2005)