Der fast vergessene Tod

Tuberkulose tritt in Deutschland verstärkt wieder auf - Viele Jahre lang wurde die Krankheit verdrängt

Harald Hoffmanns Tierchen gedeihen langsam, aber prächtig. Sie wachsen, weil der Münchener Virologe im Labor verfüttert, was er selbst gerne frühstückt: Rührei mit einer Prise Salz. Lateinisch heißen die Tierchen Mycobacterium Tuberculosis. Wie weiße Mohnkörner kleben sie auf dem giftgrünen Nährboden aus Eiweiß und Fett, den der Forscher zwei Wochen zuvor in Reagenzgläser gefüllt und in einen 37 Grad warmen Brutkasten gestellt hat.

Auch in Martin Kildanes Körper gedeiht das Mycobacterium Tuberculosis. Als die tödlichen Keime im Frühjahr 2004 die Lunge des Maurers befielen, arbeitete der damals 60-Jährige noch zehn Stunden täglich auf einer Baustelle in Hamburg. Er strotzte vor Kraft, wog 78 Kilogramm. Kurz darauf verlor er erst seinen Appetit, dann seine Energie, wachte jede Nacht in Schweiß gebadet auf. Jetzt hält nur noch der Gummizug die Shorts auf Kildanes abgemagerten Hüften. Der englische Patient liegt in Zimmer 15 der Quarantänestation der Asklepios-Klinik München-Gauting. Viermal täglich spült er einen Medikamentencocktail herunter, der die Parasiten davon abhält, seine Lunge weiter zu durchlöchern.

Kildane ist einer von 6583 Tuberkulose-Patienten in der Bundesrepublik, die hinter den Sicherheitstüren der Seuchenabteilungen aus Blick und Gedächtnis unserer Gesellschaft verschwunden sind. Die Krankheit, an der Anfang des 20. Jahrhunderts jeder vierte berufstätige Mann starb, scheint vergessen. Doch während sich die Zahl der Erkrankungen hierzulande in den vergangenen zwanzig Jahren halbiert hat, schnellen die Infektionsraten trotz der weit verbreiteten Impfung von Neugeborenen weltweit in die Höhe.

Jährlich erkranken acht Millionen Menschen an Tuberkulose. Alle 15 Sekunden stirbt ein Mensch an der Lungeninfektion. In armen Ländern geißelt die »weiße Pest« ganze Bevölkerungsschichten 85 von 1000 Häftlingen in russischen Gefängnissen tragen die heimtückischen Erreger in sich. In afrikanischen Staaten südlich der Sahara, in denen zudem das HIV-Virus wütet, ist einer von 100 Bewohnern infiziert. Zwei von 1000 Asiaten sind positiv getestet.

Und mit dem globalen Reisen kehrt die Krankheit zurück, die mit der Kolonialisierung von Europa aus in die ganze Welt gestreut wurde. Trotzdem hören angehende Mediziner in Deutschland nur noch am Rande ihrer Ausbildung von der »Schwindsucht«, die Thomas Mann in seinem 1924 erschienenen Sittengemälde „Zauberberg“ ironisch romantisierte.

Der einzige deutsche Anbieter von Tuberkulin-Stempeltesten zur Schnellerkennung hat im Jahr 2003 die Produktion eingestellt. Im Vergleich zu anderen Industriestaaten gibt es wenige auf Lungenkrankheiten spezialisierte Krankenhäuser. Die Tuberkulosestation in Gauting ist mit vierzig Betten die größte in Deutschland.

Eine Bedrohung geht vor allem von den multiresistenten, mutierten Kulturen aus, die durch falsche und unzureichende Therapie entstehen. Albert Neher im Gautinger Zentrum ist spezialisiert auf diese hartnäckigen Fälle, die eine Therapie zur Einzelhaft werden lassen. Ein Weißrusse verbrachte zweieinhalb Jahre abgekapselt von der Außenwelt, bevor Neher ihn entlassen konnte. »Im Schnitt gehen die Patienten nach 39 Tagen nach Hause und werden ambulant weiter behandelt«, sagt der Spezialist.

In Gauting hoffen derzeit neben Kildane noch 29 andere Quarantänepatienten auf Heilung. Durch das offene Fenster dringt ihr rasselndes Husten in das Krankenlager des Engländers. Jeder ihrer Hustenstöße wirbelt bis zu 100 Milliarden Bakterien in die Luft. In den Speicheltröpfchen schweben die Keime wie unsichtbare Seifenblasen durch die hellen Flure der Station. Die UV-Strahlen zerstören die Erreger, die sich in dunklen, nicht gelüfteten Räumen besonders wohl fühlen.

Unter dem Mikroskop zeigen die Parasiten, deren Nachweis Robert Koch 1882 erstmals gelang, ihre schnurartige Struktur. Unser Immunsystem erkennt sie nur schlecht. Zu perfekt haben sie sich angepasst. Ähnlich dem HIV-Virus kann das Mycobacterium Tuberculosis jahrelang im Körper schlummern, bevor die Abwehr in einem schwachen Moment kollabiert und die Krankheit plötzlich ausbricht.

»Ein Pesterreger alarmiert sofort alle Warnsysteme im Körper und man wird schlagartig krank«, erklärt Hoffmann. »Bei Tuberkulose ist der Prozess schleichend.« Das erschwert das frühzeitige Erkennen. Die Verdrängung der einstigen Volkskrankheit verschärft diese Schwierigkeit noch. »In dem Maße wie die Krankheit verschwunden ist, verschwand auch das Wissen um Diagnose und Therapie«, sagt Hoffmann.

Doch in Gauting ist Tuberkulose Alltag. Hier gibt es Patienten mit der Statur von Mittelgewichtsboxern, deren Lungen von den Bakterien zerfressen sind wie Schweizer Käse. Hier wird deutlich, dass die Krankheit keine Klassen kennt: Asylant liegt neben Jurist. Auch in unseren Alltag kehrt die offene TB zurück. Aktuell wurde die »Lungenpest« bei einer Schülerin des Wertinger Gymnasiums (bei Augsburg) diagnostiziert. Derzeit wird ihr Umfeld ärztlich untersucht. Im Januar war ein Student der Uni Nürnberg erkrankt. 1300 Kommilitonen wurden kurze Zeit später getestet - 600 negativ, 700 positiv.

In diesen Tagen beginnen Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts die Suche nach einem Impfstoff, der die latente Infektion in Schach halten kann. Das Serum könnte weltweit Millionen Menschen vor dem Ausbrechen der Krankheit bewahren. Kildanes Leiden hätte es nicht mehr verkürzt.

Der Engländer hat sich das Mycobacterium Tubercolosis in irgend einem billigen Hotel zwischen Hamburg und München eingefangen. Fünf Jahre hatte er auf deutschen Baustellen verbracht bevor ein Arzt die Krankheit in ihm erkannte. An Nehers erste Visite erinnert sich Kildane nur zu gut. Der Arzt begrüßte ihn mit: »In drei Tagen wären Sie tot gewesen.«

Unter dem Mikroskop erscheint das Mycobacterium Tuberculosis als dunkelrotes Pünktchen im Lungengewebe. Foto: Technische Universität Dresden

Isabel Hempel

(Nürnberger Nachrichten, 02.07.2005)